Kinderschuhe im Sand

Ene Mene Miste Der Muttertag Ist Triste

Es muss zwischen halb sieben und sieben gewesen sein. An einem Montag oder Dienstag oder Mittwoch. Vielleicht war es an einem Donnerstag oder an einem Freitag. Genau weiß ich es nicht mehr.  

Ich liebe es, barfuß in der Wohnung zu laufen. Besonders, wenn sich der Sommer langsam ankündigt. Dann ist der Boden am schönsten: frisch, aber nicht kühl. Die ersten Sonnenstrahlen dringen sanft durch das Kinderzimmerfenster bis in den sonst dunklen Flur hinein. Es scheint, ein toller Tag zu sein.

Der Boden im Flur ist an diesem frühen Morgen ungewöhlich sauber. Es gibt eine Stelle zuhause, die immer mit einer fast unsichtbaren Schicht feiner Sandkörnchen bedeckt ist. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich schon versucht habe, mich selbst zu disziplinieren und daran zu denken: Kinderschuhe besser auf dem Spielplatz vom Sand freiklopfen. Seit fünf Jahren bemühe ich mich darum vergeblich.

Für einen kurzen Augenblick genieße ich an diesem sonnigen Morgen den lauwarmen, sandfreien Boden unter meinen Füßen. Ein schönes Gefühl. Ich laufe darüber zur Küche, um etwas Wasser zu trinken. Ich weiß ganz genau, meine Tochter ist vermutlich in ein paar Sekunden wach und schreit „Maaaaamaaaaaa“.

Mamasein ist anstrengend und schön zugleich

„Verweile doch, du bist so schön“. Goethe hatte wohl recht als er den Augenblick mit diesen Worten ehrte. Achtsam sein. Im „hier“ und „jetzt“, spüren, (durch)atmen. Auch als Mama. Bevor der Sturm an einem „der-ganz-normale-Wahnsinn-Tag“ beginnt.

Egal wie schön dieser Augenblick des „Für-sich-selbst-daseins“ und anstrengend mir das Mamasein jetzt vorkommt, möchte ich diese wundersame Erfahrung um nichts in der Welt missen: Die Sandkörnchen aus den Schuhen meiner Tochter auf dem Wohnungsflur. Ihr lautes Quengeln früh morgens. Ihre großen Augen, wenn ich ihr etwas erzähle. Meine großen Augen, wenn sie mir etwas erzählt. 

Vielleicht bin ich nicht eine sehr gute Mutter. Aber es macht mich wahnsinnig glücklich, dass ich für sie da bin. Dass sie bei mir ist. Denn das ist nicht immer selbstverständlich. Und besonders an einem Tag wie dem Muttertag schmerzt es noch doller, wenn das nicht so sein sollte.

Für die Mutterlosen ist der Muttertag triste

Ich hatte auch mal eine Mutter. Es steht außer Frage, die beste Mutter der Welt. Die hübscheste, die klügste. Die, die an alles gedacht und sich um alle gekümmert hat. Die jüngste unter allen anderen Müttern in meiner Schule sowieso. Trifft eigentlich habe besser zu?

Nun, es ist so, dass meine geliebte Mutter vor 25 Jahren an Krebs starb, nachdem sie lange darunter gelitten hatte. Seitdem lebt sie wohl behütet in meinen Erinnerungen. Auch in den Erinnerungen meiner jüngeren Schwester.

Am Todestag meiner Mutter gedachte meine Schwester ihr dieses Jahr wieder. Sie macht das wie gewöhnlich mit einem ungewöhnlichen Essay. Es heißt „The Unmothered“. „The New Yorker“ veröffentlicht das wunderschöne Essay am 9. Mai vor acht Jahren, zwei Tage vor dem Muttertag 2014. Im Essay erinnert sich Ruth Margalit an ihre eigene Mutter, die an Lungenkrebs stirbt. Ehrlich und überzeugend zeigt die Autorin auf, wie sehr und wie stark es ihr immer noch schmerzt, keine Mutter mehr zu haben. Auch mehrere Jahre nach dem Verlust.

An einer meiner Lieblingsstellen im Essay heißt es dann:


Meghan O’Rourke has a wonderful word for the club of those without mothers. She calls us not motherless but unmothered. It feels right – an ontological word rather than a descriptive one. I had a mother, and now I don’t. This is not a characteristic one can affix, like being paperless, or odorless. The emphasis should be on absence.

The New Yorker, 2014

Ich habe darüber nachgedacht und ich finde, beide Begriffe beschreiben „den Club“ zutreffend. Am 22. April, dem Todestag meiner Mutter, fühle ich mich „unmothered“. Ich weiß genau, sie ist weg. Der Krebs hat mich und meine Schwester entmüttert. Für immer.

Am Muttertag und an Feiertagen fühle ich mich „motherless“, also mutterlos. Keine Herzchenpralinen, kein Herzchenkuchen, keine Herzchengrußkarten für einen Herzensmenschen wie meine Mutter. Denn ich bin die ohne Mutter. Nach einem Vierteljahrhundert tut es immer noch weh, mutterlos zu sein.

Meine Tochter und ihre Mutter

Power. Action. Turbo. Das ist meine Tochter. Ich eher das Gegenteil. Trotzdem genieße ich die Zeit mit meinem Kind. Zugegeben, manchmal sieht es nicht danach aus. Aber es ist auch nicht immer leicht. Besonders am Anfang unserer Beziehung. Der Start war holprig und anstrengend. Wie auch sonst nach meiner Krebsdiagnose drei Monate nach ihrer Geburt.

Plötzlich stand ich da: glücklich und traurig, frischgebackene Mama und überforderte Krebspatientin. Zugleich. Selbst entmüttert und mutterlos. Wie sehr habe ich mir meine Mutter an meiner Seite in diesem schwierigen Moment gewünscht.

Aus dem Leben einer Mama lernen

Eins habe ich durch meine blöde Krankheit damals gelernt: Ich habe keine Zeit – in der Zeit, die ich habe – ständig traurig darüber zu sein, ohne Mutter zu sein. Auf mich wartete zuhause nach anstrengenden Chemotherapien, lebenswichtigen Operationen und entscheidenden Arztterminen ein kleines, lebendiges Mädchen. Aufgeben kam für mich nie infrage.

Das Mädchen ist inzwischen fünf und lehrt mich durch ihre Art jeden Tag aufs Neue: Das Leben ist schön, spannend, herausfordernd, bunt, toll, leicht. Ich müsste es bloß mit den Augen (m)eines Kindes sehen.

Geschichte und Kommerzialisierung des Muttertags

Der Kult um die Mutter beginnt noch 201 v. Chr. mit der Verehrung der großen Göttermutter bei den Römern: Dir fehlt die Mutter; drum such – ich befehl es dir, Römer – die Mutter. (Ovid, Festkalender IV,258). Auch Verehrungsrituale um die Göttin Rhea im antiken Griechenland deuten auf die Ursprünge des Muttertags.

Der Muttertag in seiner heutigen Form verbreitet sich seit 1914 von den USA in der westlichen Welt.  In Deutschland, Österreich, der Schweiz oder den USA zum Beispiel wird er am zweiten Sonntag, im Vereinigten Königreich am vierten Sonntag im Mai gefeiert. In Bulgarien am 8. März, dem „Internationalen Tag der Frauen“. Andere Länder wie Ägypten, Israel oder Irak feieren den Muttertag am Frühlingsanfang, am 21. März.

Anna Marie Jarvis ist Mutter des Feiertags

Anna Marie Jarvis ist international anerkannt als die Begründerin des Muttertags in den Vereinigten Staaten. Am 12. Mai 1907, dem Sonntag nach dem zweiten Todestag ihrer Mutter, veranstaltete sie ein Memorial Mothers Day Meeting in Grafton, West Virginia.

Bereits ihre Mutter engagierte sich für Initiativen wie „Mothers Friendships Day“ oder „Mothers Day Meetings“. Söhne nicht mehr in den Kriegen opfern war eines der Ziele dieser Frauenbewegungen.

Einst als Zeichen der Liebe zu ihrer Mutter ins Leben gerufen, wurde der Tag zunehmend kommerzialisiert. Jarvis ist irgendwann selbst für die Abschaffung dieses Feiertags.

Der Muttertag in Deutschland

Deutschland 1923: Der Verband deutscher Blumengeschäftsinhaber setzt sich für den Muttertag als Tag der Blumenwünsche ein.

Heutzutage: Deutsche geben im Durchschnitt 25 Euro für Geschenke am Muttertag aus. Und Blumenhändler machen 130 Millionen Euro Umsatz in der Woche vor dem Muttertag in Deutschland. Mehr als am Valentinstag.

In der Zeit des Nationalsozialismus: Das NS-Regime nutzt den Muttertag zu Propaganda-Zwecken aus. Erst seit 1945 darf daher die Mutter Mama heißen.

Jan Fedderson, Sozialwirt und Journalist, bezeichnet in der „taz“ im Mai 2005 den Muttertag als ungemütlichen Tag:

„Die Nazis wollten Frauen als Kameradinnen, noch lieber aber als Gebärmaschinen. Die Mutter war eine Heilige im völkischen Wahn, geehrt zum Muttertag, dem zweiten Sonntag im Mai. Warum wird er heute noch gefeiert, allem Feminismus zum Trotz?“

Sollte der Muttertag irgendwann nicht mehr gefeiert werden, ist das zumindest Jarvis und mir recht.

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