So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! So lautet der Titel Schlingensiefs Tagebuch einer Krebserkrankung.
Christophs Tagebuch habe ich zwei-, dreimal beiseite legen müssen. So oft so dunkel, so negativ und bedrückend kam es mir erst vor. Nur er – Künstler, Regisseur, Visionär – hatte vor dem Hintergrund einer Krebserkrankung ein Verständnis vom Leben und von der Liebe, die mich fesselte. Ich musste das Buch zu Ende lesen und ich habe es getan. Nachdem ich es beendet habe, blätterte ich schnell zum Anfang zurück: „Ein wahnsinnig trauriges, ein sehr, sehr schönes Buch“, lautet dort Volker Weidermanns Kommentar.
Das klang irgendwie esoterisch, endgültig, traurig, aber auch schön. Es fühlte sich genauso an wie ich mich eben fühlte. Ich war froh, das Buch nicht aufgegeben zu haben.
Schlingensief, der unter physischem und mentalem Zwang des Verstehenwollens der Diagnose, der Therapie sowie der Folgen seiner tödlichen Krebserkrankung stand, zeigt in seinem Tagebuch viele Beispiele dafür, was Leben und Liebe zumindest für ihn bedeuteten.
Das Tagebuch leitete übrigens Christoph Schlingensief als Selbsttherapie ein und nicht zum Zwecke einer Buchveröffentlichung, was sich später jedoch nicht vermeiden ließ. Die Essenz des Lebens lautet etwas kitschig-naiv:„das Große im Kleinen zu finden“.
Schlingensiefs Glück liegt in den kleinen Dingen
Das kleine, triviale Mettbrötchen, das ich mir zurzeit nicht selbst holen kann, ist mir gerade tausend Mal wichtiger als irgendeine Achterbahnfahrt auf irgendeiner Bühne. Dann gibt es eben demnächst nur Mettbrötchen oder so was. Das ist die Zukunft. Die Freude am Kleinen
Ich bin zu Fuß zur Pizzeria gelaufen, 25 Minuten lang. An jedem dritten Baum musste ich kurz stehen bleiben und verschnaufen, weil die Narbe beim Laufen nach vorne ausstrahlt und es dann ziemlich wehtut. Da habe ich einfach meinen Rücken an die Bäume gepresst, und der Schmerz hat nachgelassen, das war toll. Aber das Schönste war: Ich habe heute Bäume gestreichelt. Ich habe sie berührt, die Blätter gestreichelt, meinen Kopf nach hinten an der Rinde langsam hin und her gerieben, meine Füße im Gras gespürt. Es war einfach wunderschön. Das hätte ich mir früher nie zu sagen erlaubt.
Ich weiß ab heute, wo es langgeht. Was ich im Moment konkret tun kann, ist langsam gehen. Langsam gehen, Bäume, Tiere, Kinder anschauen und Blödsinn machen beim Kaffee und Kuchenessen. Und dann wieder weggehen. Und die Sonne spüren. Und kurz anhalten, atmen, langsam machen. Und wenn ich mal zu schnell bin, sage ich mir: Lass dir Zeit, Alter, die Entschleunigung hat begonnen.
Liebe macht den Krebs erträglicher
Was die Liebe betrifft, ist Christoph Schlingensief ein begnadeter Kranker, wenn es so etwas überhaupt gibt. Aino – Freundin, Verlobte, Ehefrau – ist an seiner Seite, sie gibt ihm Kraft. Sie spendet ihm Trost:
Und Aino liebt mich und ich liebe Aino. Das ist ein großes Glück. Zu merken, dass man geliebt wird, ist schön. Jemanden zu lieben ist auch schön.
Ein Freund, eine Familie um sich herum haben – dieses Glück steht nicht allen Schwerkranken zu. Es gibt viele, die mit den Ängsten vor der Krankheit, ihrem ungewissen Verlauf, mit den Fragen – wann und wie sterben – alleine gelassen werden. Durch ihre eigene Familie, durch Freunde, durch das Gesundheitssystem und nicht zuletzt durch die Gesellschaft. Aus Angst, aus Egoismus, aus moralischer und geistiger Ignoranz.
Tagebuch kritisiert Umgang mit Todkranken
Das Buch ist ein Appell an diejenigen, die gesund sind, aber einen kranken Menschen in Ihrer Familie oder ihrem Bekanntenkreis haben:
Kümmern Sie sich um ihn, auch wenn Sie Angst haben, dass es ihnen zu schwer wird.
Kein Weglaufen und kein Wegschauen, sondern sich um den erkrankten Menschen kümmern. Das ist für mich einer der wichtigsten Aspekte, die Schlingensief selbstkritisch erst einmal auf seinem Diktiergerät formuliert und später durch das verlegte Tagebuch öffentlich thematisiert.
Sich kümmern heißt über sich vergessen
Stehen bleiben. Das eigene Ego zurückstellen. Sich aktiv, intensiv und altruistisch kümmern, was keineswegs mit der Floskel „jemanden in den Tod begleiten“ zu tun hat, ist das, was einem kranken Menschen Halt und Hoffnung gibt. Denn viele haben vielmehr Angst vor dem Alleinsein mit der Krankheit als vor dem Sterben wegen der Krankheit.
Jemanden in den Tod begleiten zu wollen, suggeriert, dass wir die Person, die kämpft, bereits aufgegeben haben. Es ist so, als ob wir jemanden bei lebendigem Leibe begraben haben.
So ein Umgang mit Kranken ist unfair, verletzend und unmenschlich. Jeder Mensch, sogar todkrank, der anders aussieht und riecht und spricht und denkt, ist immer noch derselbe liebenswerte Mensch, wie wir ihn vor der Erkrankung kannten. Das ist immer noch der Vater, die Mutter, der Bruder oder die Schwester, der Großvater, die Großmutter, der Partner, das Kind. Keine Krankheit auf dieser Welt darf die Wahrnehmung dieses Menschen durch die Angehörigen sowie die Gesellschaft negativ beeinflussen.
So findet sich bereits auf den ersten Seiten dieses Buches die allerwichtigste Botschaft:
Dieses Buch ist das Dokument einer Erkrankung, keine Kampfschrift gegen eine Krankheit namens Krebs. Aber vielleicht eine für die Autonomie des Kranken und gegen die Sprachlosigkeit des Sterbens. […] So viele kranke Menschen leben einsam und zurückgezogen, trauen sich nicht vor die Tür und haben Angst, über ihre Ängste zu sprechen. […] Wenn Sie also erkranken und bemerken, dass Sie als Mensch kaum noch vorkommen und das Gefühl nicht loswerden, nur noch fremdbestimmt zu sein, dann beschweren Sie sich.
Das Leben mit der bösen Krankheit
Walter Benjamin
Es gibt für die Menschen, die heute sind, nur eine radikale Neuigkeit – und das ist immer die gleiche: der Tod.
Die Diagnose einer schweren Krankheit, wie zum Beispiel Lungenkrebs, neben Tausenden, die genaso lebensgefährlich sind, ist der Anfang eines neuen Lebens: mit Ängsten und vielen offenen Fragen. Bei Schlingensief markiert die Krankheit den „neuen Weg“:
Mit der Krankheit ist man jetzt etwas anderes. Das ist ein neuer Weg und der muss jetzt gefunden und gegangen werden.
Es ist ein Weg, auf dem man zu neuen Erkenntnissen und Schöpfungskräften gelangt, aber auch über Zweifel und Konventionen stolpert. Mit den ersten produktiv umzugehen und mit den letzten aufzuräumen – dies ist Schlingensief auf seinem neuen Weg wichtig.
So schafft er es zum Beispiel aus seiner Krankheit auch positive Kraft zu schöpfen: Die Freude an den kleinen Dingen des Lebens empfinden, den eigenen Tod auf der Bühne inszenieren, von Kindern sowie einem Haus am See träumen oder davon, ein gewisses Alter zu erreichen, vielleicht nicht 80, aber 60 oder 70…
Mit seinem Tagebuch dokumentiert Schlingensief die Zerstörung von Körper und Seele durch die Krebserkrankung von innen und außen. Er kritisiert die Stellung des Kranken in unserer Gesellschaft, enttabuisiert den Akt des Sterbens sowie das Verständnis des Leidens als Gottesprinzip. Darüber hinaus, und vor allem, ist das Tagebuch ein ansteckendes Liebesbekenntnis zum Leben, zum Mögen von Hier und Jetzt.
Aus Schlingensiefs Tagebuch
Zerstörung
Gesellschaft
Sterben
Leiden und Liebe
Menschen sind vergänglich
Obwohl den meisten von uns der Zustand von Vergänglichkeit bewusst ist, harren wir gerne lieber in unserem vertrauten Rhythmus und in bequemen Verhaltensmustern aus. Wir gehen irgendwie naiv davon aus, wir dürfen ewig dem Wechsel vom Winter auf Sommer und umgekehrt entgegenfiebern.
Keiner denkt sicherlich gern daran, er könnte ausgerechnet heute sterben. Wir tun häufig so, als hätten wir mit dem Universum eine Lebensversicherung abgeschlossen, die uns vor dem Tod schützt. Diese Versicherung existiert im realen Leben nicht. Selbst wenn, irgendwann sind die Schutzengel müde.
Unerwartet, blitzschnell und mit voller Wucht dringt dann eine schicksalhafte Veränderung in unser geordnetes, vorprogrammiertes Leben ein. Plötzlich ist alles anders: wir, unsere Familie, unsere Freunde, das Leben, die Welt.
Auf einmal treten wir kürzer, die Entschleunigung beginnt. Alles ist so wie es ist: die Blumen, die Sonne, der Regen, der Himmel, die Liebe. Was passiert mit dem Leben? Na ja, vielleicht ist dieses dann ein anderer Zustand, Transformation, Wiedergeburt, Asche, Seele, Leere, Paradies, Hoffnung auf einen besseren Ort. Wieso? Wer braucht schon einen besseren Ort als diesen auf der Erde? Denn: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!