Kommentar
Januar, 2016. Dieses Neujahr hat vieles geändert: In der Domstadt, in Deutschland, in Europa, womöglich auf der ganzen Welt. Viele von uns fragen sich vor dem Hintergrund der „Ereignisse in Köln“, wie und warum das geschehen konnte. Das geschah in der Silvesternacht am Hauptbahnhof in Köln: Frauen wurden auf offener Straße massiv sexuell belästigt, bestohlen, vergewaltigt.
Negative Schlagzeilen für Köln weltweit
Die in der Silvesternacht eingesetzten Polizeibeamten waren zugegebenermaßen überfordert angesichts der Ereignisse. Laut Medien stammen die bislang ermittelten Straftäter (Antänzer genannt) aus Marokko, Syrien und Iran. Sie haben einen Migrationshintergrund. Einige von ihnen sind deutsche Staatsbürger, andere frisch eingereiste Flüchtlinge. An die wahrscheinlich wohl populärste Headline – „Ereignisse von Köln“ – reihen sich weitere negative aneinander. Zum Beispiel der „Silvester-Skandal“, der „Skandal-Silvester“, die „Nacht der Gewalt“, die „Schandnacht von Köln“. Diese Ereignisse und der somit entfachte politische Diskurs verändern das Image einer Millionenstadt, die seit Jahrzehnten für Toleranz, Offenheit und Lebensfreude bekannt ist.
Nun macht die Domstadt als die Stadt der sexuellen Übergriffe über Frauen weltweit negative Schlagzeilen. Ausgerechnet meine Wahlheimat-Stadt, in der ich – Bulgarin, Deutsche und Kölnerin, eine Frau mit Migrationshintergrund – bereits seit mehr als fünfzehn Jahren lebe. In dieser Zeit habe ich Köln in mein Herz geschlossen. Ich erlebe seit Tagen, wie meine Stadt auf den Kopf gestellt wird: durch die Silvesternacht, durch die Medien, durch die Opfer, durch die Politiker, durch die dafür zuständigen Institutionen.
Ereignisse verunsichern Kölner
Was ist bloß los in Köln? Vor ein paar Tagen las ich Frank Nägeles Kolumne mit dem Titel „Köln, so bist du kein Gefühl, so bist du ein großer Irrtum“ im Kölner Stadt-Anzeiger. Ich fühlte mich angesprochen und angespornt, ein paar Zeilen über die gewaltsame Silvesternacht in Köln zu schreiben. Die Idee verfestigte sich als ich vor Kurzem tagsüber unterwegs in Köln war. An diesem Tag regnete es. Ich war froh, dass ich einen Regenschirm dabei hatte. Sollte mich jemand belästigen, würde ich den Schirm zum Selbstschutz einsetzen, dachte ich. Außerdem kann ich mich dadrunter schön verstecken, unauffällig bleiben. In der Bahn, wo es sehr eng wurde, versuchte ich mehrere Armlängen Männern fern zu bleiben, obwohl ich den Verhaltenskodex unserer Oberbürgermeisterin, Frau Henriette Reker, für realitätsfern halte. Jedoch erwischte ich mich immer wieder, wie genau ich darauf achtete, ob ich hier und jetzt sicher und vorsichtig genug bin. Ich habe darauf geachtet: Sind die Männer, die mir auf der Straße begegnen, potenzielle Retter oder Straftäter.
Ich war selbst über meine Gedanken und über mein Verhalten überrascht. Grundsätzlich bin ich eher ein Angsthase. Sicherheit und Gemütlichkeit gehen bei mir vor. Nur jetzt – nach den Ereignissen in der schrecklichen Silvesternacht – ist die (gesunde Portion) Angst als Schutzmechanismus doch intensiver, der Hang zur Vorsicht ausgeprägter.
Selbstverteidigung für Frauen
Da war er. Der Schlüsselmoment, der mir klar machte: In Köln hat sich vieles geändert. Auch zukünftig wird sich noch mehr tun: Ein Mann, der in Wirklichkeit dem Antänzer-Profil nicht entsprach, grinste und grüßte mich neulich auf der Straße mit einem fröhlichen „Buongiorno. Die Arme breit zur Seite ausgestreckt, als ob er mich umarmen wollte. In der Zwischenzeit versperrte (subjektiver Eindruck, zugegeben) mir sein Kumpel den Weg mit seinem Fahrrad. „Na toll“, dachte ich. Jetzt testen einige Männer die Reaktionen der Frauen. Sie machen nun aus einer ernsten Situation Spaß.
Liebe Machos, seid bitte vorsichtig, denn die Nachfrage nach Selbstverteidigungskursen für Frauen steigt rasant. Die nach Pfeffersprays ebenso, wie ich in den Medien lese. Ohne die Zwischenfälle in der Kölner Silvesternacht hätte ich die „Tester“, diese schrägen Vögel, angelächelt und mit „Buongiorno“ zurück gegrüßt. Spontan gedacht: Ja, so ist eben Köln. Bunt, schrill, lebendig. Köln ist ein Gefühl. Nach der Skandalnacht mache ich lieber einen Bogen um schrille Vögel mit Möchtegern-Macho-Image wie diese, die mir an diesem Tag begegnet sind.
Was die Ereignisse in Köln klar machen
Aktuell ist die Rede von rund 500 Anzeigen. Die meisten davon über sexuelle Belästigung in der Silvesternacht in Köln. Alles begann mit 30 Anzeigen am Silvester. Oder begann das viel früher? Ungefähr dann als eine Million (laut offiziellen Registrierungsdaten, Doppelregistrierungen sowie keine Registrierungen ausgenommen) Flüchtlinge dank der Politik Angela Merkels 2015 nach Deutschland kamen. Ich frage mich: Werden Frauen etwa erst seit Januar 2016 sexuell bedrängt und vergewaltigt? Nur in Köln? Nur durch Flüchtlinge und Migranten? Nein, ganz sicher nicht.
Hashtag aufschrei – Hashtag metoo Nachtrag 2019
Gewalt über Frauen hat viele Gesichter. Die Debatte über sexuelle Übergriffe auf Frauen ist alt und trotzdem aktuell. Weltweit. 2013 kam #aufschrei. 2018 #metoo. Beides eine lautstarke Reaktion von Frauen, die sexuell belästigt wurden. Die Hashtags setzen ein klares Zeichen gegen sexuelle Belästigung und Gewalt gegenüber Frauen.
Sexuelle Belästigung über Frauen ist Alltag: Es passiert im Büro, auf der Straße, im Bus, in der Straßenbahn. Allerdings handelt es sich bei den Zwischenfällen in Köln um einen Massen-Vorfall mit besonderer Intensität und Problematik. Weil: Viele Menschen in Deutschland begrüßten die Flüchtlinge ein paar Monate vor den Ereignissen mit herzlich willkommen. Willkommen in Köln und in unserer Nachbarschaft. Und plötzlich waren sie Straftäter.
Migranten unter Verdacht
Heute neigen noch mehr Menschen aufgrund der Stimmung über die Ereignisse in der Domstadt dazu, Flüchtlinge und Migranten unter einen Generalverdacht zu stellen. Das ist explosiv. Ähnlich wie die vermehrten Meldungen darüber, wer wen, wo, wann und wie begrapscht und bedrängt haben soll, wird darüber berichtet, dass sich Einheimische immer wieder auf die Jagd nach Ausländern in Köln und sonstwo begeben. Ein Mann schnappte sich vor einigen Tagen ein Küchenbeil mit und reiste zum Kölner Hauptbahnhof. Dort wollte er sich ein Bild von der Lage machen. Andere organisieren sich in private Bürgerwehren und denken so Selbstjustiz betreiben zu dürfen.
Verantwortung für die Skandalnacht
Die Bevölkerung wirkt verängstigt, unsicher. Die Politiker suchen verzweifelt nach Lösungen, die Situation zu deeskalieren, zum Beispiel durch Verschärfung des Sexualstrafrechts oder durch eine Reihe von Änderungen des Asylrechts.
Gleichzeitig will keiner so richtig für die Ereignisse in Köln verantwortlich sein: Die Schuldfrage ist nach wie vor offen. Wer war es? Und wer übernimmt die Verantwortung für die Zwischenfälle in Köln: Herr Albers, Herr Jäger, Frau Reker, Frau Kraft, Thomas de Maizière, Herr Münch, Herr Weise, Angela Merkel samt ihrer anvertrauten Ämtern und Institutionen.
Im Leben ist jeder einzelne von uns dafür verantwortlich. Jeder, der sich gegen Globalisierung und Toleranz sträubt und „deutsch sein“ „ für sich reklamiert“ grenzt Menschen aus, wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Neujahrsansprache 2015 sagte. Weiterhin betonte sie: „Es kommt darauf an, auch in Zukunft ein Land sein zu wollen, indem wir selbstbewusst, frei, mitmenschlich und weltoffen sind.“
Diese Botschaft, dieses Gefühl, dürfen wir aufgrund der Zwischenfälle in Köln nicht aufgeben. Ich will dadurch die Straftaten der schrecklichen Silvesternacht nicht rechtfertigen oder die Angst und Demütigung der Opfer schmälern. Keineswegs.
Köln ist ein Gefühl
Die Domstadt am Rhein ist mehr als die Skandal-Silvesternacht. Sie ist ein Gefühl: der Lebensfreude, der Vielfalt, der Toleranz. Zu ihr gehören: die Shopping-Meilen, die Weihnachtsmärkte, die Erlebnis-Cafés und Biergärten.
Köln ist zudem der Stadtgarten, der Volksgarten, der Decksteiner Weiher, die Kletterhallen, der Zoo, die Seilbahn, die Flora, der Dom, der Rhein, die Schiffe auf dem Rhein, die Philharmonie, das lit.cologne-Festival, der Karneval (auf den man jetzt so kritisch schaut), die Liebesschlösser an der Hohenzollernbrücke.
Es geht um Integration
Integration ist ein langwieriger, komplexer und kostspieliger Prozess. Davon bin ich überzeugt. Auch, dass dieser Prozess mit gewissen Ängsten, Zweifeln und Kompromissen jedes Einzelnen einhergeht. Darauf soll sich jeder von uns einstellen. Die Ereignisse von Köln haben das deutlich gezeigt: Wir können und dürfen keine Zeit mehr verlieren.