Über Bulgarien und Deutschland zu Ostblockzeiten
„Transitvisum fürs Leben“ reist durch die nicht so alte Vergangenheit Bulgariens, aber auch Deutschlands. Rumjana Zacharievas Roman erzählt von Liebe, Träumen, Geld, Werten im Westen und Osten Europas in Zeiten des Kalten Krieges. Vom Migrantenleben. Von sich selbst finden und an sich selbst glauben. Das immer noch aktuelle Archaische – „back to the roots“ – steht im Zentrum auch ihres Romans.
Zacharievas „Transitvisum fürs Leben“ lässt sich als ein Gesellschaftsroman jener Zeit lesen. Die Autorin beschäftigt sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere in der Ehe. Über Familie und Gesellschaft schreibt sie gern, direkt, ehrlich, oft zu ehrlich. Aber immer mit viel Witz, Ironie und Selbstironie.
Zacharievas Roman erzählt ebenfalls eine Frauengeschichte: von Emotionen und Gefühlen, von der Sehnsucht nach der großen, bedeutenden Liebe. Es ist die Story einer stolzen und zugleich verletzlichen Bulgarin – sowohl in der Fremde als auch in ihrer Heimat. Die Bulgarin heißt Mila.
Die Sprache Zacharievas ist faszinierend. Emotional und authentisch. Lebendig und humorvoll. Einfach bildhaft. Deutsch klingt plötzlich wie Bulgarisch.
Die Zeit der Schülercamps im Kommunismus
Bulgarien im Jahr 1966: Mila ist „Absolventin der preparatory class der English Language Politecnical School in Russe an der Donau“. Die junge Frau fährt mit ihren Eltern, „beide parteilose Sportlehrer“, im Sommer nach Druschba am Schwarzen Meer. Druschba (приятелство) bedeutet „Freundschaft“ auf Bulgarisch und eben Russisch. Heute trägt der Ort wieder seinen ehmaligen Namen – die Heiligen Konstantin und Elena. Dort arbeitet Milas Vater als Leiter der Schulcamps, die in der kommunistischen Zeit typisch sind und Kinderbetreuung bieten. Heutzutage heißt es eher Kindercamp oder Sommer-Kids-Club.
Mutter und Tochter dürfen den Vater ans Schwarze Meer begleiten. Die Familie genießt die Privilegien, die die Leitung eines Schulcamps (пионерски лагер) mit sich bringt: das billige Mensaessen oder die kostenfreie Unterkunft.
Neben den Bulgaren, die den Anblick von Mutter und Tochter, beide für Schwester gehalten, mit „begeisterten Pfiffen“ würdigen, taumeln sich auch manche Ausländer am Strand: Deutsche, Polen, Russen, Rumänen. Sogar Franzosen und Engländer sind dabei. Auch Johannes, der sechsundzwanzigjährige Architekt aus Bonn am Rhein. Der erfolgreiche, gut aussehende Mann kommt mit Mila und ihren Eltern ins Gespräch.
Milas Vater klärt in gebrochenem,“vorsozialistischen Gymnasialdeutsch“ Johannes auf, wessen Eltern Volksfeinde gewesen seien. Milas Mutter cremt sich mit einer Sonnenmilch, die nach„verfaulendem Kapitalismus“ duftet. Alle vier essen genüsslich Wassermelone am Strand. Während der Vater erzählt und die Mutter sich eincremt, ist es um Mila und Johannes geschehen: Die Absolventin des Englisch-Gymnasiums hat den Kopf des erfolgreichen Architekten und Immbolienmaklers verdreht. „Kleine Bulgarin, schöne Bulgarin, was hast du aus mir gemacht“, trillert Johannes ein selbst ausgedachtes Liedchen.
Liebe kennt keine Grenzen
Gibt es ein größeres Glück als dieses: Die eigene und einzige Tochter mit einem Mann wie Johannes, dem erfolgreichen Westdeutschen, verheiratet zu wissen. Das Herz der Mutter hüpft vor Freude. Der Verstand des Vaters sagt ja.
Und Mila, vor Johannes in den bulgarischen Künstler Alexander verliebt, fragt sich: „Kann man, das heißt frau, zwei Männer auf einmal lieben?“ Mila denkt und tut so, als ob die Antwort ja wäre: „Ich tue immer so, als wäre Johannes, der Deutsche, meine erste Liebe gewesen.“
Vor dem Trauschein bekommt Mila und ihre Familie einen Garantieschein für das vermeintlich gesicherte Glück: Johannes Brief und Einladung fiebern Mila und ihre Familie entgegen. Nun ist er da. Der Brief ist vielmehr der Aufriss einer Junggesellenwohnung. Das ist der Garantieschein für Milas neues Leben jenseits der Armut, jenseits des Ostblocks. Johannes und Mila heiraten und die junge Bulgarin darf endlich in die BRD zu ihrem deutschen Ehemann einreisen.
In der Bonner Villa verschwindet die Romantik
Die in Bulgarien erlebte Romantik zwischen Mila und Johannes geht hinter den Mauern der deutschen, weißen Villa in der Bonner Rheinallee bald verloren.
Es dauert nicht lange bis die einundzwanzigjährige, frischgebackene Frau Dr. Carstens aus Bulgarien in ihr neues Leben eingeweiht wird: Ihr großes, schönes Zuhause ist ein steriles Schloss voller Wandschränkchen mit Putzmitteln und Putzutensilien. Dort ist einiges zu tun.
Zum Beispiel „ohne Ausnahme every morning“ das gemeinsame Klo putzen, dann die Badewanne, „it’ll be easy for you, beim Säubern der Badewanne, dear, kreisend rauf und runter, hin und her, you know“. Nein, das weiß Mila nicht. Denn schwere Haushaltsarbeit ist in Bulgarien damals eine „Männerdomäne“. Schließlich soll die berufstätige Ehefrau lieber „ihre zarten Nägel nach Feierabend pflegen“.
Auch das Mittagessen soll um Punkt 12:30 aufgetischt sein. Denn Johannes will täglich seine einstündige Mittagspause oben in der Wohnung einhalten. Sein Architekten-Atelier liegt schließlich nur ein Stockwerk tiefer in der Villa. Aber „was kann eine Zwanzigjährige kochen, die bis dato bloß die Schulbank gedrückt […] und sonntags ausschließlich Mutters Rührei oder andere Arten von Eiern genossen hat.“
In Deutschland herrscht Überfluss und Geld
Der Überfluss an Waren im deutschen, „mit mehreren Neonsonnen“ beleuchtetem Supermarkt um die Ecke droht Milas „Gehirn zu ersticken.“ Anstatt des „vertrauten Dufts nach überreifen bulgarischen Tomaten und Paprika“, liegen in den Steigen „drei-vier Zentimeter runde“, gleich klein und ohne Duft deutsche, Pardon, holländische Tomaten. Der 20-DM-Schein von Johannes ist schnell weg. „Wo ist das Geld abgeblieben?“ Diese Frage wird sich Mila nun öfters bei ihren täglichen Einkäufen stellen müssen.
Zum Teufel mit dem täglichen Betteln nach Geld, was Mila in „Ausweglosigkeit, Verzweiflung und Scham“ stürzt. Zum Teufel mit der Jalousie oder dem Wasserhahn. Wie funktionieren die bloß richtig? Während Mila mit der Jalousie und dem Wasserhahn umzugehen lernt, fällt das ihr mit dem Geld schwerer.
Sie kann sich „nicht daran erinnern, irgendwann einmal Geld vermisst zu haben“ da, wo sie herkommt. „In meiner sozialistischen Heimat […] hat Geld nie eine Rolle gespielt […]. Es wurde bloß umgedreht und ausgegeben […]. Wenn das Geld für die letzten vier-fünf Tage nicht ausreichte, borgten meine Eltern sich 15 Lewa.“
Weißt du eigentlich, was das alles hier kostet
Auch nach zehn Jahren und zwei Töchtern sorgt das Thema Geld für „destruktive Auseinandersetzungen“ zwischen Herr und Frau Carstens: „Weißt du eigentlich, was das alles kostet, […] deine Krankenversicherung, deine Rentenversicherung, meine Lebensversicherung, die Abgaben für die Mitarbeiter in meinem Architektenbüro“, fragt Johannes.
„Nö, es interessiert mich auch nicht“, antwortet die „Barbarin“, die „den Hals nicht voll kriegt“, immer Geld maßlos ausgibt „egal ob es einem gehört oder nicht.“
Das bisschen Taschengeld, das Mila als Arzthelferin verdient, macht das nicht wett. Dabei hatte sie Träume: zu studieren, Gedichte zu schreiben und eine berufstätige Frau und Mutter zu sein. So wie sie das von den Müttern und den Frauen in ihrer Heimat auf dem Balkan kennt.
Boten des Friedens oder Ratten der Luft
Nicht einzig die Einstellung gegenüber des Materiellen zieht Mila und Johannes voneinander. Auch ihre Sicht auf Dinge in der Welt scheint verschiedenen Kulturen und Ländern zu gehören: So sind zum Beispiel für Mila die Tauben „Boten des Friedens“. Für Johannes „Ratten der Luft“. Die Mauer um die Villa bedeutet für ihn Schutz, für sie Isolation.
Nachdem der Kulturschock einigermaßen überstanden ist, setzt die Anpassung an das Leben in der neuen Heimat an: Mila ist unter dem „Einfluss des kapitalistischen ICHISMUS ein unmenschliches und absolut egoistisches westliches Schwein geworden“. Zu diesem Schluss kommt sie selbst.
Just dann erklärt ihr Johannes „HIER und JETZT auf der Stelle aufzuhören“ ihre „ganze bulgarische Sippe, die Nachbarschaft, die ganze Heimatstadt und ganz Bulgarien mit Medikamenten zu versorgen, mit Autoersatzteilen und Winterreifen!“ Mila, die „Verräterin“ kommt dennoch für die Beerdigungen von Tatko (татко) und Majka (майка) auf.
Mila und die Liebe
Was passiert, wenn die „ Laufsohlen der Liebe abgetragen sind. Oder wenn es zu teuer wird, sie neu zu besohlen“. Dann „stürzen wir alle“ und laufen barfuß ohne Schuhe weiter. Milas Töchter sind inzwischen vierzehn und elf, wenn sie ihre deutsche Familie verlässt:
„Wenn ich Johannes nicht verlassen würde, stelle ich mir mein zukünftiges Leben so vor: Jeden Morgen, bis an mein Lebensende, decke ich den Frühstückstisch mit dem Meißner Frühstücksservice, mache das Frühstück, gebe auf etliche Teller und Untertassen Acht, die bloß Dekoration sind und so viel Arbeit verursachen, viel Porzellan und wenig Essen drauf, das nenne ich Esskultur! Ich koche Tag für Tag die Eier weder zu weich, noch zu hart“.
Ich glaube nicht daran, dass sich Mila und Johannes nicht geliebt haben. Ich glaube auch nicht daran, dass deutsch oder bulgarisch sein ein Grund mehr dafür ist, dass sich zwei Menschen „entlieben“. Es ist bloß eine Ausrede mehr. „Aber den Richtigen im richtigen Moment zu lieben, das ist die Kunst!“. Darauf kommt es an.
Deswegen macht sich Mila mit Ende 30, frisch geschieden, und später mit Ende 50 auf die Suche nach ihrer Jugendliebe, nach „dem Traum namens Alexander“. Verzweifelt wartet Mila auf den bulgarischen Künstler am Kölner Hauptbahnhof in einer kalten Novembernacht Ende der Achtziger.
Vergeblich durchquert sie etwa zwanzig Jahre später ganz Veliko Tarnovo, „eine der hübschesten Städte Bulgariens“. Und wegen „der malerischen Kulisse“ ein Anziehungspunkt „für die Künstler aus der ganzen Welt.“ Auch dort ist keine Spur von Alexander. Was ist mit ihm passiert? War er in jener Nacht im November 1987 unterwegs nach Deutschland? Ist er untergetaucht? Lebt er noch?
Eine Liebe bleibt für immer
Eine andere Liebe, diese zum Schreiben, bleibt und begleitet Mila ein Leben lang. Da ist sie: Zuhause in Bulgarien, dem Land, „in dem Kinderträume wahr wurden“:
„Ich sitze an meinem Doppelschreibtisch, den mir mein längst verstorbener Vater eigenhändig […] entworfen und in der Werkstatt in einem bulgarischen Dorf bestellt hat“, […]„hier, im Balkan-Gebirge“ […] mit „Blick auf zwei Balkan-Spitzen: Ostrec und Mara Gidik“ […] habe ich das Gefühl, ich wäre allem gewachsen und könnte alles schreiben“.
ÜBER DIE AUTORIN:
Rumjana Zacharieva wurde 1950 in der bulgarischen Stadt Baltschik geborern. Sie ist eine deutsche Schriftstellerin bulgarischer Herkunft. Rumjana publiziert bereits mit 11 Jahren Gedichte in der überregionalen bulgarischen Presse. In Russe (ehem. Rustschuk – „die Stadt der geretteten Zunge“) besucht Zacharieva das englischsprachige Gymnasium. Sie übersiedelt in die BRD. In Bonn lernt sie ein Jahr lang Deutsch, studiert Anglistik und Slawistik.
Seit 1975 veröffentlicht Rumjana Zacharieva literarische Texte in deutscher Sprache: Romane („7 Kilo Zeit“, „Bärenfell“, „Transitvisum fürs Leben“), satirisch-erotische Kurzgeschichten, Gedichte („Geschlossene Kurve“, „Am Grund der Zeit“, „Traumwechselstörung“). Zacharieva schreibt Hörspiele und Features für WDR 3 und WDR 5, unter anderem.
1979 erhält Rumjana Zacharieva als erste nichtmuttersprachliche Autorin den Förderpreis für Literatur des Landes NRW. 1999 den Literaturpreis der Bonner LESE.
Seit 2017 veröffentlicht Zacharieva erneut auf Bulgarisch. Die Autorin lebt heute in Bad Münstereifel.
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