Die Debatte über Flüchtlinge ist überall: in Politik, in Wirtschaft, Nachbarschaft, in der Zeitung, im Radio, in Blogs, auf twitter, facebook und Co. Seit Jahren, Monaten und jetzt sogar stündlich.
Wie jede Debatte kommt sie und geht sie. Bei dieser ist es so: Ich erwische mich selbst, wie ich öffentliche Kampagnen zum Schutz der Flüchtlinge verfolge. Youtube-Videos, online- und offline-Beiträge über Flüchtlinge und ihre ehrgeizigen Kinder. Sie träumen davon, in Deutschland zu bleiben und studieren zu dürfen, um später Presige-Berufe zu ergreifen.
Seitdem das Handelsblatt die Wochenendausgabe mit Max & Mustafa betitelte, weiß ich, dass es an der Zeit ist, mich intensiver damit zu beschäftigen. Einige der „hard facts“, die das Handelsblatt für Ihre an der Flüchtlingsproblematik in Deutschland interessierten Leser zusammengetragen hat, möchte ich Euch nicht vorenthalten (Quelle: Handelsblatt, 31. Juli bis 2. August, 2015):
Hard facts 1 bis 15
1. 42. 500 Menschen sind täglich gezwungen, ihre Heimat zu verlassen.
2. Kriege, Bürgerkriege, politische, religiöse, ethnische Verfolgung, Hunger, Armut, Klimawandel und Naturkatastrophen zwingen Menschen zu fliehen.
3. Im ersten Halbjahr 2015 gab es in Deutschland knapp 180. 000 Asylanträge (im ersten Halbjahr 2014 waren es 90. 000), mehr als die Hälfte davon stammen von Bürgern aus Balkanländern.
4. Derzeit halten sich 350. 000 Flüchtlinge in Deutschland auf.
5. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Syrien, Kosovo, Albanien, Serbien, Afghanistan, Somalia, Irak, Eritrea.
6. Jeder Asylbewerber – auch aus sicher eingestuften Herkunftsstaaten wie die Balkanländer – hat eine Chance, in Deutschland zu bleiben, zumindest juristisch gesehen.
7. Eine vierköpfige Asylbewerberfamilie kostet die deutschen Steuerzahler fast genauso viel wie eine vierköpfige Hartz IV-Familie.
8. In Deutschland leben weniger als 6 Flüchtlinge je 1.000 Einwohner, in Libanon sind das 232, in der Türkei 21.
9. 16 % der Asylbewerber und Flüchtlinge haben einen Hochschulabschluss, sind im Schnitt sehr jung und haben daher großes Potenzial, sich zu qualifizierten Arbeitskräften zu entwickeln, wenn sie gefördert werden.
10. Rund 143. 000 Menschen waren 2014 an Deutschkursen gemeldet.
11. Man weiß noch nicht, was die Neuankömmlinge über uns wissen
12. Das wissen wir über die Flüchtlinge: 54 % sind unter 25 Jahre, ein Drittel von ihnen jünger als 18 Jahre, vorwiegend männlich.
13. In Deutschland muss man keine französischen Verhältnisse wegen der Flüchtlingswelle befürchten.
14. In Deutschland muss man keine Angst vor No-Go-Areas haben – wie heute Berlin-Neukölln in amerikanischen Reiseführern gern bezeichnet wird.
Hard facts 15 bis 32
15. Ärztliche Leistungen wie Mutterschaftsvorsorgeleistungen oder unaufschiebbare Krebsbehandlungen, unter anderem, werden von Sozialämtern entgolten.
16. Sind Flüchtlinge in Deutschland integriert: „Wenn jemand nicht akzentfrei Deutsch spricht, ist das für manche schon keine gelungene Integration“, erklärt ein Beauftragter der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration.
17. Junge Flüchtlinge müssen nicht mehr vier Jahre warten bevor sie eine Ausbildung beginnen dürfen.
18. In den ersten drei Monaten dürfen Asyl-Bewerber nicht arbeiten.
19. Zur EU-Flüchtlingspolitik: EU-Staaten wollen die illegale Einreise erschweren, konsequenter abschieben, die Einwanderung qualifizierter Menschen erleichtern.
20. Das Dublin-System – Flüchtlinge müssen im Land Asyl beantragen, in dem sie zuerst ankommen – ist gescheitert.
21. Italien, Griechenland, Ungarn, Italien (auch Bulgarien) können den Ansturm von Flüchtlingen nicht bewältigen.
22. Düsseldorf verzeichnet 2015 knapp 50 Prozent mehr Einbrüche als im Vorjahreszeitraum, die eher auf professionelle Banden aus Südosteuropa zurückzuführen sind, als auf Flüchtlinge.
23. Die Rate der gestohlenen Fahrräder geht zurück, nur 767 Asylbewerber waren verdächtigt, Fahrräder gestohlen zu haben.
24. Im ersten Halbjahr wurden 180. 000 Asylanträge gestellt, 40. 000 bis 80. 000 (nach verschiedenen Quellen) wurden genehmigt, rund 43. 000 abgelehnt, 10. 000 Menschen wurden abgeschoben. Die anderen Fremden werden geduldet. (Status: erste Hälfte von 2015).
25. Ein Asylverfahren kann bis zu sieben Monate dauern.
26. Zuwanderer haben Rentenansprüche, kurzfristig entlasten sie sogar das Rentenversicherungssystem: Mit den Zuwanderern aus Mittel- und Osteuropa stieg die Zahl der Beitragszahler in die Rentenversicherung seit der Einführung des Gesetzes für Freizügigkeit.
27. Neuer Trend: Viele Ausländer verlassen Deutschland nach zwei Jahren wieder – so zahlen sie zwar ein, kassieren später aber wenig oder nichts.
28. Die Zahl der Angriffe gegen Asyl- und Flüchtlingsunterkünfte ist stark gestiegen.
29. Anwälte für Asylrecht können die Flüchtlingswelle-Fälle kaum bewältigen. Gewinnt der Anwalt das Verfahren, bekommt er 1.000 Euro vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
30. Die Stadt Frankfurt zahlt etwa 720 Euro Warmmiete pro Kopf im Monat; die Stadt Düsseldorf 1.050 Euro, die Flüchtlinge sind dort in Hotels untergebracht.
31. Asylanträge von Menschen aus Ländern des Westbalkans – diese gelten als sicher – werden mit Priorität innerhalb von 14 Tagen bearbeitet, um die Menschen schnell wieder in ihre Heimat zurückzuschicken.
32. „Flüchtlinge bereichern das Kulturleben in Deutschland vor allem dadurch, dass sie „uns“ einen Spiegel vorhalten, in dem wir ein teilweise sehr hässliches, kulturloses Gesicht wiedererkennen“, so Volker Heins vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen für das Handelsblatt.
33. Etc.
„Willkommen, liebe Flüchtlinge“
Vor ein paar Tagen sagten 200 Menschen aus Deutschland in der Huffington Post: „Willkommen, liebe Flüchtlinge, gut, dass ihr hier seid“. Ich scrolle schnell im Artikel, überfliege Statements und Gesichter. Dann bleibe ich bei diesen Worten hängen:
Weil ihr mich daran erinnert, was wirklich zählt. Durch euch ist Selbstverständliches nicht mehr selbstverständlich und ich kann mich auf das besinnen, was mich wachsen lässt: von meinem Glück etwas abzugeben und es mit euch zu teilen.
Irina Baumbach, Geschäftsführerin und Foodbloggerin
Irgendwie kaufe ich dieses Statement Frau Baumbach ab. Sie verspricht nichts, sie ist bloß emotional und offen. Politik und Wirtschaft spielen keine Rolle in ihrer Aussage. Die Bloggerin ist einfach menschlich – vielleicht deswegen kaufe ihr das auch ab.
Obwohl viele Menschen in Deutschland ihre Stimme öffentlich „für“ die Flüchtlinge erheben, frage ich mich: Wie viele von ihnen würden durch Taten das beweisen, was sie öffentlich behaupten. Wie viele von ihnen würden Flüchtlinge in ihrer direkten Nachbarschaft willkommen heißen, wie viele davon würden Flüchtlingskinder nicht als Flüchtlingskinder sehen, wenn sie morgens ihre eigenen Kinder in die Schule bringen? Wie viele davon werden Flüchtlingen eine Chance auf dem Arbeits- oder Immobilienmarkt gewähren? Die NIMBY-Einstellung („not in my backyard“) ist allgegenwärtig. Was soll und will mir sonst die Überschrift Max & Mustafa sagen?
Ich bin auch ein Flüchtling
Vielleicht bewegt mich das Schicksal der Flüchtlinge auch deswegen, weil ich selbst eine von ihnen bin. Vor vielen Jahren als ich nach Deutschland gekommen bin, um ein Jahr Au-pair zu sein und später zu studieren, war ich auch in gewisser Weise dazu gezwungen, meine Heimat Bulgarien zu verlassen. Da herrschte auch ein Krieg – der Krieg zum Überleben. Davon bin ich geflohen.
Als ich nach Deutschland kam, wollte ich weder auf der Tasche der deutschen Steuerzahler liegen (damals wusste ich kaum, was das bedeutet) noch nach meinem Studium zurück in die Heimat. Bloß nicht dem Phänomen „Braindrain“ entgegensteuern. Ich wollte weder das eine noch das andere. Ich wollte es einfach nur hier schaffen: In Deutschland zu studieren, zu arbeiten, zu leben und glücklich zu sein; mit allem Drum und Dran. Das war vielmehr ein persönlicher Wunsch weniger aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen motiviert. Dennoch erinnere ich mich heute noch an die Worte meines Opas:
Wenn Du ein Land findest, in dem das Leben besser ist als in Bulgarien, dann bleibe dort.
mein Opa, ein fortschrittlich denkender Mann
Zaun gegen Flüchtlinge an der Grenze
Heute errichtet Bulgarien mithilfe der EU einen 160 Kilometer langen Zaun an der Grenze zur Türkei, um Flüchtlinge zu stoppen, um sie vor der Weiterreise womöglich nach Deutschland zu verhindern.
Auf der anderen, sicheren Seite der Grenze – hier in Deutschland – läuteten zuletzt 230 Kirchen-Glocken für die 23. 000 Menschen (Quelle: Neon 8, 2015), die auf der Flucht zu einem besseren Leben gestorben sind. Ein symbolischer Akt für eine symbolische Zahl.